Geschichte

Neben vielen Zeugnissen Salzburger Geschichte beherbergt das Salzburg Museum auch Bruchstücke alter Handschriften mit Melodien und Texten eines  Passionsspiels.

Der Salzburger Komponist und Musikforscher Cesar Bresgen vermutete, dass es sich dabei um Reste der verlorengegangenen „Loferer Passion“ handelte, von der man aus alten Quellen weiß, daß sie im 16. Jahrhundert in Lofer regelmäßig gespielt worden war, und zwar nicht im Kirchdorf St. Martin, sondern im Markt Lofer, der als Verkehrsknoten wirtschaftliches Zentrum im Tal war, pfarrlich aber zu St. Martin gehörte. Pfarrkirche und Pfarrhof lagen dort. Ein schlüssiger Beweis für Bresgens Annahme fehlte aber.

Diese lückenhaften Musikdokumente ergänzte Bresgen mit eigenen Kompositionen um 1960 zu einer „Salzburger Passion“, die 1966 und 67 im großen Salzburger Festspielhaus von professionellen Künstlern aufgeführt und im Fernsehen über ORF und ZDF ausgestrahlt wurde.

Später überarbeitete der Komponist das Werk noch einmal,  weil es ihm ein Bedürfnis war, dieses ursprünglich geistliche Volksspiel dem Volk wieder zu öffnen. Es sollte in Landpfarren gespielt und maßgebliche Teile des Spiels sollten von Laiendarstellern und -musikern gestaltet werden.

Die Aufführungen im Salzburger Festspielhaus erregte in der Fachwelt bedeutendes Aufsehen, deshalb wurde Bresgen immer wieder von verschiedenen Seiten gebeten, über seine Forschungen zu berichten. Einem diesbezüglichen Rundfunkinterview verdanken wir die Bestätigung, dass die Handschriften im Salzburger Museum C.A. tatsächlich aus der verschollen geglaubten „Loferer Passion stammen.

Wie das geschah, das ist eine seltsame Geschichte.

Im Städtchen Boostedt in Schleswig-Holstein hörte Herr Ernst August Schütt dem o. a. Rundfunkgespräch eher beiläufig zu, bis ihn ein Tonbeispiel plötzlich aufhorchen ließ. Ein Lied war ihm bekannt. Und damit beginnt die seltsame Geschichte.

Vor mehr als vierhundert Jahren, 1592, war einer seiner Vorfahren, der Vogt Claas Adolph Schütt aus seiner ostholsteinschen Heimat, dem Gut Schüttembarg, mit einer Beschwerdebotschaft an den deutschen Kaiser Rudolf II auf dem Weg nach Wien. Als Vogt würde man bei uns wohl einen „Lokalbeamten“ seines Lehensherrn bezeichnen. Grund für die beschwerliche, weite Reise war zunächst der Auftrag seines Lehensherren, einen kaiserlichen Boten zu verfolgen und zu töten. Unter Strafdrohungen musste er diesem Befehl Folge leisten.

In einer Herberge nahe Celle in der Lüneburger Heide holte er den Ahnungslosen ein. Es wäre Claas Adoph Schütt ein Leichtes gewesen, seinen Auftrag auszuführen, doch einem aufrechten Mann wie ihm widerstrebte ein Meuchelmord. Er wollte genau wissen, warum und weshalb er gezwungen und gedungen worden war, eine so furchtbare Tat zu begehen. Von seinem Opfer erfuhr er, dass durch den Mord ränkische und verbrecherische Umtriebe von Schütts Auftraggeber vertuscht werden sollten. Für Class Adoph eine außerordentlich unangenehme Situation: einen Unschuldigen zu töten, verboten ihm Gesinnung und Gewissen. Verweigerte er aber seinen Auftrag, konnte er nicht in seine Heimat zurückkehren, solange sein Lehensherr an der Macht war.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit dem Boten zu verbünden und mit ihm zusammen sie Botschaft so schnell wie möglich zum Kaiser zu bringen. Ihre Reise führte sie auch in das Herrschaftsgebiet des Salzburger Erzbischofs, warum wissen wir nicht, dunkel bleibt auch, ob sie sich vor oder wegen der folgenden Ereignisse getrennt haben. Wir wissen nur, dass der Holsteiner Vogt , damals schon ein alter Mann von 63 Jahren, in Tittmoning von den Häschern des Erzbischofs Wolf Dietrich festgenommen und auf der Festung Hohensalzburg zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Claas Adolph Schütt sah einem trostlosen Lebensabend in Festungshaft entgegen.

Doch nach einem Jahr, auch darüber liegen die Gründe im dunklen, im Frühjahr 1593, wurde er gewissermaßen begnadigt und mit einem „prewster Bernardus“ auf den Pfarrhof in St. Martin geschickt, der damals als mächtiger Gutshof nicht im Weichbild der Pfarrkirche lag sondern etwas außerhalb des Dorfes in Richtung Lofer. (Der Markt gehörte bis weit in unser Jahrhundert hinein zur Pfarre St. Martin). Dort blieb er weiterhin Gefangener, mußte als Knecht verschiedenste Arbeiten verrichten, konnte sich aber weitgehend frei bewegen. Im Vergleich zur Festungshaft ein gutes Leben für ihn. Er schreibt später nieder, daß ihm die Landschaft im Loferer Becken gefiel und daß ihn der Pfarrherr gut behandelte:

„düsbargen düs steen in düs land ikanse lide, de prewste is en godman“ – (diese Berge, diese Steine in diesem Land, ich kann sie leiden, der Priester ist ein guter Mann.)

Schon vom ersten Jahr an seines Aufenthalts im Pfarrhof St. Martin musste er, obwohl Protestant, auch bei kirchlichen Anlässen Handreichungen leisten, so auch bei der Vorbereitung und Aufführung der Passion im Markt Lofer. Auf diese Weise lebte er das katholische Kirchenjahr mit.

Fünf Jahre blieb der „schüttries“, wie er seinen Aufzeichnungen zufolge hierzulande gerufen wurde und was auf seine hünenhafte Gestalt hinweist, im Loferer Tal.

Nach dem Palmsonntag 1598 floh Claas Adolph Schütt und nahm dreierlei mit aus seiner Gefangenschaft:

  •  ein Fastentuch mit Darstellungen aus der Leidensgeschichte Jesu, das er in seinen Aufzeichnungen als „Magloverdoog“ (Marktlofertuch) erwähnte.
  • eine Marienstatue aus der Kirche, sie wurde in seiner Heimat zur „Lovermadonna“(Lofermadonna). Bis in unsere Zeit erhält seither jeder Nachkomme der Familie Schütt zur Hochzeit eine Kopie davon. Das ist bemerkenswert in einer protestantischen Familie.
  • Schließlich das „Loverleedgebet“ (Loferliedgebet). Das wurde schließlich entscheidendes Glied in der Beweiskette, daß Bresgen die Aufzeichnungen im Salzburger Museum C.A. richtig gedeutet hatte.

Dieses Lied nämlich war es, das Claas Adolphs Nachfahre Ernst August in der erwähnten Rundfunksendung mit Cesar Bresgen aufhorchen ließ. Geradezu empört war er, denn dieses Lied war sein „Loverleedgebet“ und seines Wissens nur in seiner Familie bekannt. Seit der Heimkunft seines Urahns war es in der Familie Schütt als „Familienlied“, und nur als solches von Generation zu Generation weitergegeben worden. Nur bei besonderen Anlässen, vor allem aber in Not und Gefahr sang/betete man es. Es verlieh Kraft und Zuversicht, half trostvoll bei Kummer, wie es jenem Claas Adolph geholfen hatte auf seiner Flucht aus dem bergigen Saalachtal in die weite Ebene Ostholsteins zwischen Nord- und Ostsee. Zwei Jahre währte seine Flucht. Krankheit, Hunger und andere Widerwärtigkeiten bedrohten ihn, wiederholt wurde er festgenommen und kam wieder frei, ehe er nun, schon siebzig Jahre alt, seinen Hof „Schüttembarg“ erreichte.

Hörprobe „Loverleedgebeet“

 

Fastentuch und Madonna wurden ihm auf seinem Heimweg öfter weggenommen, immer wieder konnte er sie irgendwie zurückgewinnen und in seine Heimat bringen. Das Loverleedgebet“ aber konnte ihm niemand nehmen. Zu oft hatte er es in Not gebetet und hundertfach daraus Kraft geschöpft, jene Kraft, die ihn seinen Weg unbeirrbar fortgehen ließ.

Seine eigene Erfahrung mag ihn auch bewogen haben, dieses Lied seinen Kindern und Kindeskindern so einzuprägen, als Vermächtnis mitzugeben, daß es Jahrhunderte gleichsam als Familienbesitz überdauerte. Und es wurde und wird gebetet. Ernst August Schütt erzählt davon, wie er und seine Geschwister es als Kind bei Sturmflut auf einer Hallig gebetet haben, wie er oft und oft als Soldat im Kugelhagel an der Front dank dieses Gebetes seine Angst überwunden hatte und Gefahren ruhig und gefasst begegnen konnte.

Madonna und Fastentuch verbrannten 1852 auf „Schüttembarg“. Aber noch ehe das vernichtete Gehöft wieder fertig aufgebaut war, wurde eine Kopie der „Lovermadonna“ angefertigt und der Familienbrauch, jedem Brautpaar aus der Familie, eine weitere Kopie zur Hochzeit zu schenken, wurde bis in unsere Tage nach dem neuen „Vorbild“ fortgesetzt. Das Fastentuch konnte leider nicht mehr ersetzt werden

Nach diesem Rundfunkinterview begann Ernst August Schütt zu forschen. Nach vielen Briefen gelang es ihm mit Hilfe des Tierarztehepaares Margot und Helmut Adler in Lofer den Faden zu Cesar Bresgen aufzunehmen. Er entzifferte mühevoll die „Anklag weder de Riderschap“ (Anklage gegen die Ritterschaft), die sein Vorfahr Claas Adolph nach seiner Rückkehr abgefaßthat und in welcher er neben der Anklage seinen achtjährigen Leidensweg peinlich genau niedergeschrieben hatte.

Wenn im heurigen Jahr 2008 nach 1983, 1988, 1993, 1998 und 2003 zum sechsten mal zur „Loferer Passion“ nach Kirchental eingeladen wird, dann geschieht das in einem Jahr, in dem wir zweierleier Ereignisse gedenken können und dürfen:

Am 7. April jährt sich heuer zum zwanzigsten Mal der Sterbtag Cesar Bresgens und am 16. Oktober sein 95. Geburtstag. Dieses zweifache Jubiläum war uns auch Ansporn, auch in personeller Hinsicht an den Ursprung der Passion zu denken; an jene Zeit, in der unsere Vorfahren, Bewohner unseres Tales die Erinnerung an das leiden Christi als religiöses Schauspiel gestalteten.

„Ach fat to Harten“, so beginnt die Fassung des Loverleedgebets im niederdeutschen Dialekt, die in der Familie Schütt überliefert ist. Mehr davon preiszugeben verbietet die Achtung vor dem geistigen Gut einer Familie. Die Neuformung von Cesar Bresgen, entnommen seinem Buch „Passionslied in Salzburg“,1975 im Verlag Alfred Winter erschienen, sei allen gegeben, die verspüren können, welche Kraft wenige Takte und Worte einem gläubigen Menschen, einer Familie, einer großen Gemeinschaft vermitteln können, wenn sie sich davon ansprechen lassen.

Max Faistauer


Quellenangabe:

Cesar Bresgen: „Passionslied in Salzburg“, Verlag Alfred Winter 1975

Ernst August Schütt: „Erinnerungsblätter zum Familientag 1989“

Margot Adler: „Kniepaßschriften“ Heft 1, 1971

Gesprächserinnerungen des Autors mit den o.a. Personen